Nein, er hatte nicht geschlafen. Nicht einen Moment. Er konnte sich jedenfalls nicht daran erinnern.
Er seufzte. Wie würde er nur aus der Sache herauskommen? Da saß er in dieser Steinwüste. Hier ist nichts grün, dachte er, jedenfalls nicht auf dem Friedhof. Gewiss, in der Stadt gab es ein paar Gärten, sogar mit wunderschönen Blumen, aber da durfte er nicht hinein. Das würde einen Aufstand geben! Nicht auszudenken.
Bevor ich mich mit den anderen bespreche, dachte er, muss ich mir erst einmal über alles klar werden. Es war einfach zu schnell gegangen. Für einen Germanen wie ihn war das Wetter hier zu merkwürdig. Da konnte man einen dumpfen Kopf bekommen.
Also, da kam am Abend noch der Befehl. Immer erwischte es seine Centurie. Schließlich war doch Wochenende, sogar ein hohes Fest. Zumindest am Sabbath gab es normalerweise nichts zu tun.
Das wäre zu schön gewesen. Er stand auf, reckte sich und ging ein paar Schritte hin und her. Sie mussten ganz schnell hierher kommen, um ein Grab zu bewachen. Ein Grab bewachen! „Haus der Ewigkeit“ nannten sie diese Steingräber. Diese furchtbaren Ansammlungen der Steinmetze! Und einer der Ihren, wohl ein Prophet, hatte gesagt: Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch.Es ist alles ganz eitel.
Genauso ist es, dachte. Die Menschen kommen und vergehen, was aber bleibt? Eine Leiche? Die Erinnerung? Ewig ist der Ruhm eines Menschen jedenfalls nicht.
Was für ein Unsinn! In einem Grab liegt ein Toter. Gewiss, dessen Ruhe kann man stören, und wer weiß, was die Geister davon halten. Aber ein Leichnam ist ein Leichnam, da bewegt sich nichts mehr, der kann nicht mehr davon laufen. Das hatte er schließlich oft genug gesehen im Kampf. Wer erschlagen war, war erschlagen. Den brauchte man nicht mehr zu bewachen.
Und dann sie hatten ihm gesagt, er solle mit seinen Männern dieses Grab bewachen. Es würde Leute geben, die versuchen würden, den Leichnam zu stehlen.
Er schüttelte den Kopf. Ideen haben die Menschen…einen Leichnam stehlen. Die reichen Beigaben, die die Römer dazulegten, ja, die zu stehlen macht Sinn, dachte er. So ein wenig Gold…aber einen Leichnam?
Er war sicher: Niemand war auf dem Friedhof gewesen. Er hätte es gehört. Auf den Steinen hört man Schritte nachts gut. Und hier gab es viele Steine, nichts als Steine eigentlich. Und begrabene Leichen. Wer eine stehlen wollte – bitte, viel Spaß beim Entfernen der Grabsteine. Da müsste schon eine größere Gruppe von Männern kommen, einer schafft das nicht, zwei nicht, nicht einmal fünf. Auch fünf Gladiatoren nicht.
Er lächelte. Da hatte er wirklich Glück gehabt, wie die Römer sagten, Fortuna war ihm hold gewesen. Nur Bohnen und Reis essen und dann zur Belustigung der Zuschauer kämpfen – und gewiss nicht immer siegen. Da ging es ihm als Soldat in Judäa eindeutig besser. Übrigens hatte Sie hervorragendes Lammfleisch hier. Auch der Wein war ausgezeichnet. Das gab es so in Germanien nicht. Fantastisch! Und vorsehen musste man sich nur vor den Zeloten. Die waren wirklich gefährlich.
Aber wie nun aus der Sache herauskommen? Tatsache war: kaum konnte man im Morgengrauen die ersten Umrisse wieder deutlicher wahrnehmen kamen da diese jüdischen Frauen. Und dann…
Er und seine Männer waren die ganze Nacht wach geblieben. Selbst wenn einer eingenickt sein sollte, die anderen waren wach. Es war noch ein anderer Germane da und drei aus Spanien. Und dann die vier, deren Herkunftsländer er nicht kannte. Und natürlich der Römer. Der Oberrömer. Der schwebte immer eine Handbreit über dem Boden vor Stolz. Stolz worauf eigentlich?
Mit den anderen gab es genug zu erzählen und zu beratschlagen. Wo würden sie hingehen, wenn der Militärdienst zu Ende war? Viele bleiben einfach dort, wo sie zuletzt stationiert waren. Aber hier in Judäa war das nicht wirklich möglich. Hier blieb man Fremder.
Er hatte tatsächlich sich im vergangenen Jahr in ein jüdisches Mädchen verguckt. Aber bald merkte er, dass das sinnlos war. Die Sprache konnte man ja noch lernen. Er verstand schon einiges. Aber er hätte zum jüdischen Glauben übertreten müssen. Das konnte er als Soldat nicht. Er hätte sich beschneiden lassen müssen. Da hörte sein Verständnis endgültig auf.
Aber das, was er in der Synagoge – er musste sich in einer Ecke unauffällig verhalten, er hätte eigentlich nicht hineingedurft – gehört hatte, das gab ihm schon zu denken. Er hatte es sich sogar eingeprägt, das konnte er schon immer, er behielt schnell, schneller als manch anderer. Es stand in einer ihre Schriftrollen, der vom Propheten Jeremia:
„Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held; darum werden meine Verfolger fallen und nicht obliegen, sondern sollen zu Schanden werden, darum dass sie so töricht handeln; ewig wird die Schande sein, deren man nicht vergessen wird.“ Jer. 20,11
Das konnte er gut verstehen. Im Kampf war er oft genug in die Bedroullie gekommen. Zwei Mal war es richtig knapp geworden – fast wäre er getötet worden. Da hätte er gerne jemanden bei sich gehabt, der ihm als ein starker Held geholfen hätte. Da hätte er nicht mühsam sich freikämpfen und erst einmal verstecken müssen, bis er wieder Kraft hatte. „…darum werden meine Verfolger fallen und nicht obliegen, sondern sollen zu Schanden werden,“ – das gefiel ihm.
Der hier im Grab, nein, der, der ihm Grab gewesen war, was war mit dem? Sie hatten ihn angeklagt, und er hatte gehört, dass das ganze Verfahren merkwürdig gewesen sei. Plötzlich und unerwartet habe sich das ganze Volk gegen ihn gewendet. Obschon er ihnen doch so viel Gutes getan hatte. Undank ist der Welt Lohn, stimmt doch, dachte er. Sie hätte die Möglichkeit gehabt, ihn freizubekommen. Aber sie wollte wohl nicht. Dafür sorgten ihre Oberen. Dass Menschen sich so einfach beeinflussen lassen…Barabbas wollten sie freihaben, diesen Drecksack, diesen miesen Mörder. Jesus Bar-abbas, Sohn des Vaters hieß er. Der hatte seinem Vater wahrlich keine Ehre gemacht! Wie anders der, den sie gekreuzigt hatten. Der hatte doch nichts getan!
Ob das was mit dem Prophetentext zu tun hatte, den er auswendig gelernt hatte?
„2 Und nun, HERR Zebaoth, der du die Gerechten prüfst, Nieren und Herz siehst, lass mich deine Rache an ihnen sehen; denn ich habe dir meine Sache befohlen. 13 Singet dem HERRN, rühmt den HERRN, der des Armen Leben aus der Boshaften Händen errettet!“
Lass mich mal rekapitulieren, dachte er. Das Grab war leer, also war der Tote nicht tot -oder er hatte den Tod besiegt.
Aber er wusste, dass der Tote tot war. Er hatte es selbst gesehen, als sie ihn brachten. Die Hautfarbe war typisch, so wächsern-gelb-bleich. So sehen Tote aus. Und aus seinen Wunden, und davon hatte er mehr als genug, da floss kein Blut. Der da war tot.
Wie aber kam er aus dem Grab? Diebstahl – das ging nicht. Sie hatten das Grab ja bewacht. Und sie hatten es wirklich bewacht.
Die ganze Sache ging nicht mit rechten Dingen zu. Jedenfalls war das nichts, was er je erlebt hatte.
Der Tote war tot, das Grab war leer, Diebstahl war nicht möglich. Also muss jemand eingegriffen haben, den er nicht sehen konnte. Der aus dem Propheten Jeremia: Der Herr, der wie ein starker Held zum Sieg führt. Der Aufruf zum Lobgesang schien ihm mehr als berechtigt: „Singet dem HERRN, rühmt den HERRN, der des Armen Leben aus der Boshaften Händen errettet!“
Denn der da eingegriffen hatte, der hatte des armen Jesu Leben aus den boshaften Händen derer, die ihn gekreuzigt hatten errettet.
Wenn der Leichnam wieder zum Leben gekommen war, dann war das der Sieg über den Tod. Ein Leben kann errettet werden. Vom Herrn, der wie ein starker Held, nein, der ein starker Held ist.
Er wußte, dass für das Wort HERR man sich den Namen ihres Gottes denken durfte. Sie sagten lieber HERR, um sicher zu stellen, dass sie den Namen nicht missbrauchten. Also: Es ist der Gott Jhwh, der wie ein starker Held zum Sieg führt. Es ist der Gott Jhwh, der des Armen Leben aus der Boshaften Hände errettet.
Wenn das wahr ist, dachte er, dann hätte ich mich doch lieber beschneiden lassen sollen…
Aber es muss wahr sein.
Dann dachte er an das, was geschehen war, als die Frauen gekommen waren. Es hatte ein Erdbeben gegeben. Naja, das gab es schon einmal. Hier auf dem Friedhof konnte einem wenigstens kein Haus auf den Kopf fallen. Aber im Moment waren sie unglaublich erschrocken gewesen. Das war eigentlich auch nicht normal. Nicht für Soldaten. Das Erdbeben war von Anfang an nicht normal.
Und dann schien das Grollen für die Frauen Sinn zu machen, es schien zu ihnen zu sprechen. Ihre Gesichter zeigten den gleichen Ausdruck des Entsetzens. Und schließlich, unglaublich, wurde der Stein zur Seite geschoben. Wer hatte das getan? Er konnte niemanden sehen und seine Männer hatten auch nichts erblickt. Die Frauen gingen kurz ins Grab, und als sie heraus kamen, waren sie nicht mehr nur erschrocken, sie waren zugleich freudig. Wenn man aus einem Grab heraus kommt, dann weint man. Vor Trauer. Die Frauen aber schienen von großer Freude erfüllt. Sie rannten davon.
Das Frauen so schnell rennen können, hatte er gedacht. Die muss aber was angetrieben haben. Er war selbst in das Grab gegangen, schnell, man konnte ja wegen der Geister nicht wissen, – und es war leer. Ein paar Tücher lagen da noch. Das war’s. Sollte man die Tücher sicher stellen? Aber besser war es vielleicht, die Finger davon zu lassen.
Denn da war noch die Sache mit den Hohenpriestern gewesen. Er grinste. Ach so etwas hatte er noch nie erlebt! Dabei kannte er diese Mischpoke ganz gut. Die waren vielleicht abgegangen, als er vom leeren Grab erzählte! Dann wurde sie plötzlich ganz still. Und dann – dann hatten sie vorgeschlagen, sie, die Soldaten, sollten herumerzählen, der Leichnam sei gestohlen worden. Das war ja schon vorher ihre Version gewesen. Offensichtlich hatten sie schon geahnt, dass da etwas kommen würde. Deshalb hatte er ja auch Wache schieben müssen. Vergeblich – dachte er, der HERR war wohl stärker als die Hohepriester, er war ja stärker als der Tod. Und wahrscheinlich stärker als Wotan. Wenn die Sache vorbei war und glimpflich abgelaufen, dann würde er die Frauen suchen, die da vom Grab weggelaufen waren, und die Männer, die dazu gehörten.. Vielleicht, nein, wahrscheinlich wussten sie mehr von ihrem starken Gott. Das war schon ein Ding: stärker als der Tod. Das war ein Herr, dem man treu sein konnte!
Er sah sich um. Es war gegen Abend, und es war niemand mehr gekommen. Er wurde richtig müde. Kein Wunder dachte er. Irgendwann muss selbst ein römischer Soldat schlafen…
Die Hohenpriester hatten ihnen das Geld gegeben. Er würde davon nichts nehmen und einfach seinen Mund halten und im Zweifel auf die anderen verweisen. Wie konnte er da lügen – dieser HERR würde es mitbekommen, und was dann?
Er hoffte nur, dass es den Hohepriestern und Ältesten gelingen würde, seine Vorgesetzten zu beruhigen. Aber er war da nicht wirklich besorgt. Wenn aus dieser Sache nicht mal wieder ein Aufstand folgte, dann würde es schon gutgehen. Was die da miteinander kungelten! Offiziell hielten sie schön Abstand. Bloß nichts anmerken lassen…Aber er hatte gesehen, er musste das bewachen, wie sie schon manchen Herrenabend miteinander verbracht hatte. Die kamen hervorragend miteinander aus, wann immer sie wollten. Die Ältesten würden das schon hinkriegen.
Und was die Frauen gesehen hatte, was immer das war, denn irgend etwas war da gewesen, das hatten ihre Gesichter bezeugt – um die Frauen musste er sich keine Gedanken machen. Bei ihm zu Hause wurden die Frauen doch ehrenhaft behandelt, im römischen Reich aber hatte er schon anderes gesehen. Die Juden jedoch gingen mit ihren Frauen auch relativ korrekt um. Nur eines konnten die Frauen nicht: Vor Gericht bezeugen. Was immer die Frauen sagen würden – ihre Männer mochten es ihnen ja glauben. Aber das war’s dann. Vor Gericht – falls es überhaupt dazu kommen würde – war ihre Aussage absolut wertlos. Da drohte also keine Gefahr.
Es machte ihm nur eines Sorgen: Er wußte, dass das, was die Frauen erzählen würden, wahr war. Er wußte, er hatte es ja mit eigenen Augen gesehen, dass das Grab leer war. Abgesehen von den Tüchern, die aber, da sie Leichentücher waren und auch entsprechende Spuren der Verunreinigung trugen, ebenso bezeugten, dass dieser Jesus in ihnen gelegen hatte. Hatte, denn nun war er fort. Wohin wusste er nicht.
Er war sicher: Die Wirklichkeit würde sich durchsetzen. Soviel lügen konnten seine Männer und die Ältesten und Hohepriester überhaupt nicht. Denn der da eingegriffen hatte, der HERR JHWH, der war stärker. Der würde sein Recht schon durchsetzen. Den Leichnam konnte niemand mehr finden, weil es keinen Leichnam mehr gab, sondern nur – wie sollte er das sagen – den von den Toten – Auferstandenen. Und was die Frauen und die Männer, die dann noch gekommen waren – seine Soldaten hatten es ihm berichtet – was die gesehen hatten, das würden die ebenso irgendwann herumerzählen. Und dann stand nicht Aussage gegen Aussage, sonder Lüge gegen die Wahrheit dieses Gottes JHWH. Und das konnte jeder nachprüfen.
Und dann? Dann war es so, wie bei Jeremia steht:
10 Denn ich höre, wie mich viele schelten und schrecken um und um. „Hui, verklagt ihn! Wir wollen ihn verklagen!“ sprechen alle meine Freunde und Gesellen, „ob wir ihn übervorteilen und ihm beikommen mögen und uns an ihm rächen.“ Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held; darum werden meine Verfolger fallen und nicht obliegen, sondern sollen zu Schanden werden, darum dass sie so töricht handeln; ewig wird die Schande sein, deren man nicht vergessen wird. 12 Und nun, HERR Zebaoth, der du die Gerechten prüfst, Nieren und Herz siehst, lass mich deine Rache an ihnen sehen; denn ich habe dir meine Sache befohlen. 13 Singet dem HERRN, rühmt den HERRN, der des Armen Leben aus der Boshaften Händen errettet!
Dann würde es für immer wahr sein, dass der HERR bei den Seinen ist wie ein starker Held, der Herr Zebaoth, der Herr der himmlischen Heerscharen. Dann würde er sein Recht durchsetzen: das Leben der Armen zu erretten und in sein Leben hineinzunehmen. Dann würden seine Leute vor Freude singen. Dann ist es keine Trauer mehr über die schreckliche Kreuzigung, sondern der Jubel über die Auferstehung.
Die Ablösung kam. Der lange Dienst war vorbei.
Er würde erst einmal richtig schlafen. Und dann sich auf die Suche machen. Einmal muss der Jubel ja zu hören sein. Einmal würde er auch mehr verstehen. Ob der HERR ihn wohl in seinen Dienst nehmen würde? Als Soldat wußte er: HERREN nehmen einen in Dienst. Das war normal. Aber so ein Herr, der von selbst einem hilft! Sogar aus durch den Tod! Das war doch großartig!
„Und nun, HERR Zebaoth“, sprach er laut und erschrak ob seines Mutes, aber dann sprach er noch lauter und ganz gewiss, „nun HERR Zebaoth, der du die Gerechten prüfst, Nieren und Herz siehst: Ich habe dir meine Sache befohlen.“
Amen
P. Winfried S. Küttner, https://lutheraner.wordpress.com/